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Nachfahren jüdischer Mitbürger zu Gast in Rauschenberg

Das Wetter tat sein Übriges zum Thema. Es goss in Strömen als Ludwig Pigulla, in seiner Funktion als Sachkundiger, die Nachfahren Rauschenberger Bürger jüdischen Glaubens auf deren Friedhof „Auf die wilde Struth“ begleitete und diese das Kaddisch (jüd. Totengebet) in Textform und Gesang über dem sonst unberührten Gottesacker erklingen ließen.
Mr. Chuck Buxbaum und seine Gattin Becky Gordon waren aus dem 8700 Flugkilometer entfernten Albuquerque im US-Bundesstaat New Mexico nach Rauschenberg angereist, um die Spuren ihrer Ur-Ur-Ur-Großeltern aufzunehmen.
In akribischer Vorarbeit u.a. mithilfe der vom Rauschenberger Professor Willi Wolf erstellten Stadtschrift „Jüdische Bürger in Rauschenberg: Rückblick bis 1900“ (2017) wurde eine Dokumentationsmappe zum Thema vom Ludwig Pigulla (Mitglied der AG-Schloßberg/Historischer Arbeitskreis Rauschenberg) zusammengetragen. Diese Mappe wurde mit Zeitzeugenfotos angereichert und überreicht.
Als endlich der Tag der Begegnung mit der Familienvergangenheit am Sonntag vor Pfingsten gekommen war, traf man sich vor dem historischen Rathaus. Bürgermeisterin Alexandra Klusmann nahm sich die Zeit die Nachfahren der Familie Mendel-Plaut herzlich willkommen zu heißen.
Im Magistratszimmer tauscht man Informationen aus und es zeigte sich zum wiederholten Mal, dass Nachkommen von Rauschenberger Bürgern jüdischen Glaubens fundierte Quellennachweise ihrer familiären Genealogie mitbringen. Die Aufgabe bestand nun darin, die Besucher zu den z.T. darin genannten Örtlichkeiten zu führen.
Zuvor übergab jedoch Bürgermeisterin Klusmann die Gastgeschenke der Stadt Rauschenberg. Zudem ergänzte Hr. Pigulla die Gastgeschenke mit der Stadtschrift, weiterem Informations- und Bildmaterial sowie einem uralten, handgeschmiedeten eisernen Nagel aus einem Rauschenberger Haus.
Vom Rathausturm wurden den Besuchern die Stadtausmaße, begrenzt durch die Stadtmauer gezeigt, wie sie ihre Ur-Ur-Ur-Großeltern Mendel-Plaut und Betti Plaut geb. Marx noch vollständig gekannt haben mussten.
Von besonderem Interesse des Pädagogen Mr. C. Buxbaum war die Situation der Beschulung der Kinder jüdischen Glaubens, die schon seit 1753 nachweisbar ist. Für das Jahr 1838 wurde dokumentiert, das zwölf jüdische Steuerzahler in der Gemeinde seien, sodass man auch ein Lehrergehalt von 100Gulden gut aufbringen konnte. Im Jahr 1849 liegt ein Schulbericht vor, nach dem acht Knaben und vier Mädchen den Unterricht besuchten.
Seit 1897 unterrichtete Menko Schierling nach Umwandlung der Religionsschule in eine Elementarschule und zog in das Stadtschulhaus (heute Alte Schule) um. Das Jahr 1908 weist 20 Schüler (elf Knaben, neun Mädchen) aus. Nach der Versetzung des Lehrers im Jahr 1925 löste sich die Eigenständigkeit auf und die Kinder gingen in die allgemeine Volksschule. Durch Emigration und Deportation nahm ihre Zahl stetig ab, bis zum Tag der amtlichen Feststellung durch Bürgermeister Moll am 27. August 1941: „ Die Stadt Rauschenberg ist judenfrei!“.
Die Nachfahren von Mendel Plaut und damit Vorfahren vom Besucher Chuck Buxbaum emigrierten rechtzeitig vor der Deportation ins Konzentrationslager nach New York und führten auch dort weiter eine Metzgerei, die sie schon generationsweise im Haus Nr. 61 (Ecke Kraftgasse / Schmaleichertorstraße) besaßen.
Ihr heutiger Hausbesitzer erlaubte es die ehemaligen Geschäftsräume zu betrachten, was tiefe emotionale Eindrücke bei den Besuchern bewirkte, insbesondere als sie die originale Kühlhaustür öffnen durften, die wohl schon ihre Vorfahren täglich bewegten.
Der Stadtrundgang führte sodann zu Kattens Hoob in der Blauen Pfütze, einem tradierten jüdischen Grundbesitz, in dem die heutigen Besitzer Helmut Nau und Markus Semmler gestatteten, die Kultgegenstände zu bewundern, die sie aus der jüdischen Hausbesitzerzeit zusammentragen konnten: Eine Davidskrone, die einst die Rauschenberger Synagoge krönte, einen Kiddusch-Becher (Opferkelch) für hohe jüdische Feiertage bzw. eine Mesusa (Schriftkapsel an der Türpforte eines jeden jüdischen Hauses mit Abschnitten aus der Tora). An der Stadtmauer entlang führte die Stadterkundung zur Scheune „Hinter der Stadt“ mit hebräischen und lateinischen Buchstaben der Inschrift über ihre jüdischen Erbauer: „Diese Scheier hat ISAAK Katz u. Rewecka Ehefrau erbaut anno 1779.“ Der desolate Zustand des Gebäudes wird diesem Kulturdenkmal nicht gerecht und zeugt nicht von der Toleranz der Rauschenberger gegenüber den jüdischen Miteinwohnern, die es damals ermöglichte Grundbesitz zu erwerben und Gebäude, wie zum Beispiel diese Scheune zu errichten.
Nach Verweis auf das jüdische Badehaus „Auf der Bach“ führte der Weg in die Rosengasse zum wichtigsten Gebäude der israelitischen Glaubensgemeinschaft, der Synagoge. Erbaut wurde sie 1858. Ein Fachwerkbau, der von der kleinen jüdischen Gemeinde unter finanzieller Mühsal errichtet worden war. Niemand dachte wohl dabei daran, dass das Gebetshaus mitten in der Stadt 80 Jahre später „arisiert“ wurde. Im Anschluss fanden französische Kriegsgefangene darin Unterschlupf und nach dem Krieg wurde es Flüchtlingen aus Westpreußen eine erste neue Heimat. Im Jahr 1953 wurde mit behördlicher Erlaubnis der Abriss wegen Baufälligkeit durchgeführt und der Baugrund nach einer Einfriedung ein Hühnerhof und der Gewölbekeller ein Reifenkeller. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1972, entstanden dann dort drei Garagen. Freundlicherweise lud die Besitzerin die Besuchergruppe spontan dazu ein, durch das Nebengebäude auf die Baufläche der ehemaligen Synagoge zu treten, was ehrfürchtige Reaktionen bei den US-Amerikanern auslöste. Herzlichen Dank an Frau Gaby Lins.
Da das bereits beschriebene Unwetter nicht aufhören wollte, beendete die Besichtigungsgruppe frühzeitig den Stadtrundgang. Die teilnehmende Bürgermeisterin verabschiedete sich herzlich und die kurze Autofahrt zum jüdischen Friedhof stand an.
Der Besuch dieses Gottesackers „Auf der wilden Struth“ ist immer wieder emotionaler Höhepunkt bei einem Besuch von Nachfahren ehemaliger Rauschenberger jüdischen Glaubens. Hier begegnen sich die Generationen unmittelbar und nach der Erkundung der Grabsteine mit der zunehmend schwieriger werdenden Identifikation der Inschriften erfolgte ritualisiert das Kaddisch-Gebet, eine Form von Totengebet, eine Lobpreisung Gottes, das wie bei den Christen mit einem „Amen“ (So sei es!) endet. Für die umstehenden ergreifend war, dass es vom Besucherpaar sowohl textlich als auch gesanglich vorgetragen wurde.
Bei Abschied von der Grablage wird traditionell ein kleiner Stein auf das Grabmal gelegt und Mr. Buxbaum und seine Gattin Becky Gordon sagten eine Rückkehr mit ihren Kindern zu, weil sie erlebt hatten, dass die heutigen Mitbürger der Stadt Rauschenberg sich um ihre Familiengeschichten kümmern und sie herzlich willkommen heißen.
Ludwig Pigulla
Bilder: Johannes Pius Pigulla


